Neuromuskulären Erkrankungen
Prof. Dr. Andreas Hahn
Neuromuskuläre Erkrankungen betreffen die Vorderhornzelle im Rückenmark, die motorischen und sensiblen Nerven, die motorische Endplatte oder die Muskelzellen selbst. Eine Vorderhornzelle, der von ihr abgehende Nerv und die von ihr versorgten Muskelzellen werden auch als eine motorische Einheit bezeichnet. Neuromuskuläre Erkrankungen können angeboren (genetisch bedingt) oder erworben sein. Erworbene neuromuskuläre Erkrankungen sind häufig autoimmunologisch bedingt. Beispiele hierfür sind das Guillain-Barré-Syndrom, die Dermatomyositis oder die Myasthenia gravis. Zwar kommen diese Krankheiten auch bei Kindern vor, doch ist die ganz überwiegende Mehrzahl der neuromuskulären Erkrankungen mit Manifestation im Kindes- und Jugendalter genetisch bedingt. Mittlerweile können viele hundert genetisch distinkte neuromuskuläre Erkrankungen unterschieden werden.
Hierzu zählen:
- Spinale Muskelatrophien / andere Vorderhornzellerkrankungen
- Neuropathien (Charcot-Marie-Tooth-Erkrankungen)
- z.B. demyelinisierende (CMT1) und axonale (CMT2) Formen
- Kongenitale Myopathien
- z.B. Myotubuläre Myopathie, Nemaline-Myopathie
- Muskeldystrophien
- z.B. Muskeldystrophie Duchenne / Becker, Gliedergürtelmuskeldystrophien
- Myasthenien (autoimmunologisch vermittelt oder genetisch bedingt)
- Myotonien / myotonische Dystrophien
- z.B. Myotone Dystrophie, Kongenitale Myotonien
- Metabolische Myopathien
- z.B. Glykogenosen, Lipidmyopahtien, Mitochondriopathien
Symptome
Neben einer permanenten oder episodischen Muskelschwäche können Muskelschmerzen, Muskelkrämpfe, Muskelsteife und verminderte Ausdauer oder vorzeitige Erschöpfbarkeit (Fatigue) auf eine neuromuskuläre Erkrankung hinweisen. Patienten mit Erkrankungen der Nerven (Neuropathien) beklagen oft Sensibilitätsstörungen und Missempfindungen. Bei einer Reihe von Erkrankungen ist nicht nur die Skelettmuskulatur sondern auch der Herzmuskel betroffen. Manchmal (z.B. bei mitochondrialen Erkrankungen) kann das Herz in Form einer Kardiomyopathie oder Herzrhythmusstörung primär oder vorrangig betroffen sein. Atrophien oder Pseudohypertrophien bestimmter Muskelgruppen, Wirbelsäulenverkrümmungen (Skoliosen) oder Skelettdeformierungen (z.B. Hohlfußbildung) können ebenfalls Symptome einer neuromuskulären Erkrankung sein. Bei Säuglingen und Kleinkindern sollten eine ausgeprägte Muskelhypotonie (floppy infant) oder eine motorische Entwicklungsverzögerung an eine neuromuskuläre Erkrankung denken lassen.
Ein wichtiges laborchemisches Symptom, welches oft zur Abklärung auf eine Muskelerkrankung führt, ist eine CK-Erhöhung.
Diagnostik
Die klinische Untersuchung und eine sorgfältige Eigen- und Familienanamnese durch einen auf dem Gebiet der neuromuskulären Erkrankungen versierten Kinderneurologen oder Neurologen können häufig bereits den Weg zur richtigen Diagnose weisen. Anhand der klinischen Untersuchung kann dann auch die weitere, oft komplexe Diagnostik geplant werden. Besonders wichtig ist die möglichst frühzeitige Erkennung bzw. der Ausschluss kausal behandelbarer Erkrankungen. Hierzu gehören derzeit der Morbus Pompe und die Spinale Muskelatrophie. Folgende Untersuchungsmethoden können zum Einsatz kommen und werden auch im ZSEGI durchgeführt bzw. initiiert.
Physiotherapeutischer Status: Durchführung spezieller, für einzelne Erkrankungen sinnvoller Tests (z.B. Alberta Infant Motor Scale bei M. Pompe oder CHOP-Intend bei Spinaler Muskelatrophie)
Blutentnahme / Labordiagnostik: z.B. Bestimmung von CK, Autoimmundiagnostik, Acylcarnitinprofil, Laktat, weitere Stoffwechseldiagnostik,
Neurophysiologie
- Elektroneurographie (ENG)
- Elektromyographie (EMG)
- Repetitive Stimulation
- Somato-Sensorische Evozierte Potentiale (SSEP)
- Akustisch Evozierte Potentiale (AEP)
- Visuelle Evozierte Potentiale
Bildgebung
- Skelettmuskelsonographie
- Magnetresonanztomographie
Nerven- und Muskelbiopsie (über Fr. PD Dr. Schänzer aus dem Institut für Neuropathologie, Leiter Prof. Acker)
Genetik
- Gezielte Einzelgenanalyse (z.B. Spinale Muskelatrophie)
- Next-Generation Sequencing)
- Paneldiagnostik (parallele Analyse von mehreren Genen (z.B. Glieder-
- gürtelmuskeldystrophie, frühkindliche Neuropathien)
- Exomsequenzierung (Analyse aller kodierenden Gensequenzen bei
- anderweitig ätiologisch nicht zu klärender Erkrankung
Kardiale Diagnostik (über das Kinderherzzentrum Gießen, Leiter Prof. Jux)
- EKG
- Echokardiographie
- Langzeit- + Belastungs-EKG
Lungenfunktionsdiagnostik (über die hiesige Kinderpulmonologie, Leiter PD Dr. Nährlich)
- Spirometrie
- Bodyplethysmographie
- Bestimmung von Peak Cough Flow, Maximaler Inspiratorischer exspiratorischer Druck
- Sonstiges
- Polysomnographie mit Bestimmung von SaO2 und ETCO2 über die kinderneurologische Station (Pfaundler)
- Versorgung mit einem Hustenassistenzgerät (Cough Assist)
Symptomatische Therapie
Wichtige Bausteine der symptomatischen Therapie sind die Physiotherapie und die Hilfsmittelversorgung (z.B. Orthesen, Rollstuhl). Hierbei ist enge Zusammenarbeit zwischen behandelnden Ärzten, Physiotherapeuten und Orthopädiemechanikern erforderlich. Auch die Beratung in sozialrechtlichen Fragen sowie Hilfestellung bei der Beantragung von Rehabilitationsmaßnahmen der Anerkennung nach dem Schwerbehindertengesetz oder Ablehnung von beantragten Hilfsmitteln durch die Krankenkassen gehören zur umfassenden Betreuung von Kindern und Erwachsenen mit neuromuskulären Erkrankungen.
Bei einigen Erkrankungen ist auch die rechtzeitige Indikationsstellung für operative Maßnahmen wichtig. Mögliche Interventionen zur Verbesserung der Motorik oder Vermeidung von Folgeschäden sind:
- Operative Kontrakturlösungen (z.B. Muskeldystrophie Duchenne)
- Skoliose-Operation (z.B. Spinale Muskelatrophie, Muskeldystrophie Duchenne)
- Fuß-Korrekturen (z.B. CMT-Erkrankungen)
Viele neuromuskuläre Erkrankungen gehen auch mit einer Beteiligung der Atemmuskulatur einher. Neben der Einleitung einer nicht-invasiven oder sogar invasiven Beatmung kommt auch dem Sekretmanagement und der Verbesserung des Abhustens durch Versorgung mit Hustenassistenzsystemen („Cough Assist“) große Bedeutung zu.
Medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten
Während neuromuskuläre Erkrankungen sehr lange Zeit nur rein symptomatisch behandelt werden konnten, hat sich dies in den letzten Jahren in geradezu spektakulärer Weise geändert. So sind für die Therapie einer der häufigsten neuromuskulären Erkrankungen, der Spinalen Muskelatrophie, in den USA und nun auch in Europa zwei eindeutig wirksame Medikamente zugelassen, die bei rechtzeitiger Behandlung den Krankheitsverlauf entscheidend verändern. Auch für die Muskeldystrophie Duchenne können neben der bereits etablierten Steroidbehandlung bei bestimmten Patienten schon jetzt weitere Medikamente eingesetzt werden. Vielversprechende Studienergebnisse lassen auch hier die Zulassung gentherapeutischer Medikamente in näherer Zukunft erwarten. Auch bei einer ganzen Reihe weiterer neuromuskulärer Erkrankungen finden aktuell weltweit Therapiestudien statt. Für den Morbus Pompe (Glykogenose Typ 2, Saurer Maltase-Mangel) ist eine Behandlung mittels Enzymersatztherapie möglich. Die genannten Therapien werden im ZSEGI durchgeführt.