Wie entsteht ein gesungener Ton ?
Zauberhafte Veredelung.
Reinicke sagte 1906: "Die Lehre der Tonbildung ist kein Geheimnis, sondern eine auf physikalischen und
physiologischen Gesetzen beruhende Wissenschaft. Das Stimmorgan, welches uns die Mutter Natur schenkte, können
wir zwar nicht durch ein anderes ersetzen, es läßt sich jedoch durch Schulung, Willen und Übung
so zauberhaft veredeln und umformen, daß in den meisten Fällen eine ganz neue Stimme entstanden zu sein
scheint."
Diesem Zitat kann man eigentlich nichts mehr hinzufügen, da es die wichtigen Zusammenhänge bei der Bildung
eines gesungenen Tones vollkommen richtig charakterisiert.
Es wird deutlich, daß jegliche stimmliche Äußerung, ob gesungen oder gesprochen, auf den gleichen
physikalischen und physiologischen Gesetzmäßigkeiten aufbaut und daß dennoch zwischen dem Sprechen
und dem Singen ein großer Unterschied besteht.
Obwohl die Stimmerzeugung die Menschen schon seit dem Altertum interessiert, gibt es bis heute keine endgültige
Klärung über alle physiologischen Abläufe bei der Stimmproduktion.
Klarheit herrscht allerdings darüber, daß der Phonationsvorgang an drei Funktionsbereiche gekoppelt
ist.
- die Atmung als Windkesselsystem,
- die Glottis als Tongenerator und
- das Ansatzrohr als eigentlicher Resonator.
Alle drei Funktionsbereiche sind gleichermaßen von Bedeutung und stehen in einer engen Wechselwirkung
zueinander. Die myoelastische aerodynamische Theorie nach Ewald und Tonndorf, die auf Grund von Modellversuchen
mit einer Polsterpfeife entstanden ist, hat auch heute noch Gültigkeit und kann die Vorgänge der Stimmerzeugung
erklären.
Zur Stimmbildung müssen die Stimmlippen in der sogenannten Phonationsposition, parallel nebeneinanderstehen.
Durch die Ausatmung und den damit entstandenen Druck werden die Stimmlippen von unten angeblasen und in Schwingung
versetzt. Nach dem Ausströmen der Luft kommt es unterhalb der Stimmlippen zu einem Druckabfall und durch die
myoelastischen Kräfte werden die Stimmlippen wieder verschlossen. Zusätzlich wirken Strömungsgesetze,
wie sie von Bernoulli beschrieben wurden, auf die Stimmlippen und unterstützen die Schließung. Bei einer
periodischen Wiederholung dieses Vorganges entsteht ein Ton. Dieser primäre Kehlkopfton, akustisch gesehen
muß man korrekter Weise von Schall sprechen, entspricht noch nicht unserem gewohnten Stimmklang. Erst durch
die Räume im sogenannten Ansatzrohr erhält der primäre Kehlkopfschall den individuellen Stimmklang.
Die anatomischen Strukturen der gesamten Ansatzräume sind für die individuell unterschiedlichen Klangvariationen
verantwortlich und erklären die enorme Vielfalt der menschlichen Stimme. Durch eine Veränderung der Räume
im Ansatzrohr wird eine Lautbildung von Vokalen oder Konsonanten möglich. Die Änderung der Ansatzräume
entsteht durch die willkürliche Bewegung von Zunge, Lippen, Gaumensegel, Kiefer und Kehlkopf.
Die Auswirkung des Resonanzraumes für die "Veredelung" des Stimmschalls ist durch die Messung des
Schallspektrums und Bestimmung von Formanten möglich. So kann durch eine größere Kieferöffnung,
Wölbung der Zunge oder das Tieferstellen des Kehlkopfes eine Veränderung der Formanten erreicht werden.
Solche Einstellmechanismen müssen vom Sänger erlernt werden und können das Timbre beeinflussen und
führen zu einer tragfähigen Stimme. Gelingt es dem Sänger seine Resonanzräume optimal einzustellen,
ist eine zusätzliche Steigerung der Lautstärke, besonders bei hohen Tönen gegeben.
Diese Phänomene sind vor allem auf eine gute Nutzung der Resonanzräume zurückzuführen und beruhen
nicht nur auf einer großen Leistung der Kehlkopfmuskeln und des Atemtraktes. Selbstverständlich sind
gesunde anatomische Verhältnisse im gesamten Phonationsbereich eine wichtige Voraussetzung für eine gute
Stimme.
Außer Frage steht auch, daß das Singen an einen optimalen Atemvorgang gekoppelt ist. Der Begriff der
"Atemstütze" ist unmittelbar mit dem Singen verbunden und wird von vielen Sängern als die wichtigste
Voraussetzung beim Singen gesehen. Dazu ist es notwendig, eine gute Wechselwirkung zwischen Atmungsdruck und Kehlkopfspannung
aufzubauen. Für die Tonhöhe und die Lautstärke eines Tones ist ebenfalls die Stimmlippenmuskulatur
und der Ausatmungsdruck verantwortlich. Durch Zunahme der Stimmlippenspannung kann der Ton erhöht werden und
bei Abname wird er tiefer. Die Lautstärke läßt sich durch einen erhöhten Anblasedruck steigern.
Sicher macht sich der Sänger während des Singens keine Gedanken über bestimmte physiologische Zusammenhänge
beim Singen. Er hat erlernt, wie er einen optimalen "Stimmsitz" erreichen kann. Dabei helfen ihm subjektive
Vibrationsempfindungen und ein guter Höreindruck. Um diesen wichtigen Stimmsitz zu finden sind unterschiedliche
Vorstellungshilfen und eigene Erfahrung notwendig. Ich bin allerdings der Meinung, daß auch ein Sänger
Kenntnisse über stimmphysiologische Zusammenhänge haben sollte. Dieses Wissen ermöglicht einen besseren
Umgang mit dem Stimmorgan und dient auch seiner Gesunderhaltung.
Das Singen ist eine Kunst. Es zu erlernen ist an unterschiedliche Fähigkeiten geknüpft.
Neben einer sängerischen Begabung, der Konstitution, einer guten Hörleistung spielen auch zentrale Vorgänge,
wie z.B. Koordinationsleistungen für Bewegungsabläufe, Merkfähigkeitsvermögen, Ausdauer und
Fleiß eine große Rolle. Untersuchungen von Heidelbach zur Persönlichkeitsstruktur von Sängern
konnten nachweisen, daß sich ungünstige Eigenschaften, wie unrealistische Zielvorstellungen, ein schwacher
Wille, Unausgeglichenheit oder übertriebene Empfindlichkeit negativ auf die sängerische Entwicklung auswirkten.
Nicht umsonst sagte Reinicke: "Von allen Künsten ist die des Gesanges eine der schwersten".
Literatur:
Ewald, J.R.
Die Physiologie des Kehlkopfes und der Luftröhre.
1898, In: Heymann, P.: Handbuch der Laryngologie und Rhinologie. Wien: A. Hölder
Heidelbach, J.G., Schwickardi, H.
Zur Problematik der Klassifizierung der Stimmgattungen bei Gesangsstudenten.
1983, HNO-Praxis, 8, 279
Reinicke, W.
Die Kunst der idealen Tonbildung.
1906, Döerffling und Franke
Tonndorf, W.
Die Mechanik bei der Stimmlippenschwingung und beim Scharchen.
1925, Z. Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde 1, 241
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