COVID-19-Pandemie und psychischer Stress
Dr. Dipl. Psych. Markus Stingl & Dr. med. Bernd Hanewald
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der JLU Gießen, Klinikstr. 36, 35392 Gießen
Die COVID-19-Pandemie bedeutet psychischen Stress und kann psychische Störungen verstärken oder auslösen
Von der sog. Corona-Krise und den damit verbundenen gravierenden Alltagseinschränkungen sind zwar alle Menschen betroffen, für manche Personengruppen bedeuten diese jedoch ganz besondere Schwierigkeiten.
Eine dieser besonders belasteten Gruppen betrifft Menschen, die aktuell von psychischen Erkrankungen betroffen sind, diese entwickeln oder Vorerkrankungen aufweisen.
Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Epidemien zunimmt, insbesondere Angsterkrankungen und Depressionen treten vermehrt auf (1,2). Auch die Corona-pandemie stellt eine enorme psychische Belastung darstellt und starken psychischen Stress erzeugt.
Das Internationale Rote Kreuz berichtet in diesem Zusammenhang, dass Ängste vor Ansteckung und Zukunftsängste in Zusammenhang mit der Pandemie sehr häufig zu beobachten sind. Dabei handelt es sich zunächst um „Realängste“, die nicht als „krank“ einzuordnen sind, aber krank machen können (3).
Häufige Realängste sind:
- Ängste, sich selbst anzustecken, zu erkranken und zu versterben;
- Ängste auch vor relativ einfach zu behandelnden Symptomen und Erkrankungen;
- Angst, durch das Aufsuchen von Einrichtungen des Gesundheitswesens zu erkranken;
- Sorgen, den eigenen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten zu können, während einer Isolation nicht arbeiten zu können oder gekündigt zu werden;
- Angst vor Insolvenz des eigenen Unternehmens oder des Unternehmens des Arbeitgebers
- Gefühle von Hilflosigkeit und Einsamkeit infolge von Isolation;
- Misstrauen und Ärger gegenüber allen, die mit der Krankheit in Verbindung gebracht werden;
- Stigmatisierung und Angst vor Patientinnen und Patienten, Gesundheitsfachkräften und Menschen, die Erkrankte pflegen;
- das Ablehnen von Ansprache durch Gesundheitsfachkräfte oder Freiwillige.
Diese Ängste und Sorgen können durch Unsicherheit und Ungewissheit verstärkt werden und sogar zur Entstehung einiger psychischer Erkrankungen beitragen oder vorhandene Störungsbilder verschlechtern.
Angststörungen, wie hypochondrische Störungen, Zwangsstörungen oder Panikstörungen können ähnliche Befürchtungen zum Inhalt haben, wie sie bei der Corona-Epidemie auftreten können (s.o.). So kann z.B. eine Krankheitsangst dazu führen, sich ständig auf mögliche Symptome hin zu beobachten (Hypochondrie), Ansteckung durch ständiges Händewaschen oder Kontrollieren zu vermeiden (Zwangsstörung), oder plötzlich auftretende schwere Angstattacken mit körperlichen Symptomen wie Herzrasen, dem Gefühl, zu ersticken oder Schwindel (Panikstörung).
Der mit der Kontaktsperre einhergehende Mangel an sozialen Kontakten kann zu Gefühlen der Isolation, Vereinsamung und Frustration oder Langeweile führen und depressive Symptome wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit oder Schlafstörungen auslösen. So können vorhandene Depressions-Tendenzen verstärkt werden und sich zu einer behandlungsbedürftigen depressiven Episode entwickeln. Im schlimmsten Fall kann dies bis hin zu Suizidgedanken gehen, die Isolation kann aber auch zu vermehrtem Alkoholkonsum führen, was, nach kurzfristiger Erleichterung, sowohl die Stimmung nachhaltig verschlechtern kann als auch die Gefahr der Zunahme häuslicher Gewalt mit sich bringt. Aber auch, wenn die räumliche Situation beengt ist, kann der „Dichtestress“ Wut, Ärger, Verzweiflung und Überaktivität auslösen und eskalieren und zu familiären Konflikten führen.
Wie gut oder weniger gut Menschen mit Stress umgehen können, hängt von der jeweiligen psychischen Widerstandskraft und Flexibilität (auch „Resilienz“ genannt) bzw. Verletzlichkeit (auch „Vulnerabilität“) ab – die Resilienz kann man auch als eine Art „psychisches Immunsystem“ beschreiben, das uns dabei hilft, mit negativen Einflüssen und Einwirkungen fertig zu werden. Wie beim Immunsystem besitzen wir Menschen von Geburt an ein gewisses Ausmaß an Resilienz, der weitaus größte Anteil jedoch entwickelt sich jedoch erst im Laufe des Lebens, insbesondere positive Beziehungserfahrungen stärken die Resilienz.
Menschen mit hoher Resilienz zeichnen sich aus durch:
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Was sind nun die wichtigsten Erkenntnisse aus der Resilienzforschung?
- Resilienz kann (und sollte) ein Leben lang gelernt und gestärkt werden.
- Eine gut ausgeprägte Resilienz kann dabei helfen,
- sich gegen psychischen Stress zu „immunisieren“ und
- auch den mit der Corona-Krise verbundenen Stress zu meistern
- vorhandene psychische Beeinträchtigungen abzumildern.
Tipps zur Resilienzförderung
- Selbstwirksamkeit:
Denken Sie daran, dass Sie mit Einhaltung der Richtlinien und Maßnahmen sich aktiv für den Dienst an der Gemeinschaft entschieden haben und anderen damit helfen. Dies bedeutet ein hohes Maß an Mitgefühl, Verantwortungsübernahme und Großzügigkeit!
Halten Sie eine Tagesstruktur ein, die Sicherheit und Vorhersagbarkeit gewährleistet (Aufstehen, Anziehen, Essens-, Schlafens-, Arbeitszeiten). Machen Sie sich Tages- und Wochenpläne und achten Sie dabei auf ein ausgewogenes Maß aus Pflichten und für Sie angenehmen Tätigkeiten. Setzen Sie sich dabei realistische Aufgaben und erreichbare Ziele.
Besonders wichtig: Planen Sie Belohnungen ein.
Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken und Fähigkeiten – Ressourcen sind immer mit einem positiven Körpergefühl verbunden!
- Soziale Kontakte pflegen:
Beziehungen geben Rückhalt und Stärke. Pflegen Sie Ihre Kontakte über die Distanz, ggf. mit technischen Möglichkeiten (SMS, Videokonferenzen, Chat, Nachrichtendienste‚ Balkonsingen: Musik gegen die Corona-Angst etc.) oder „old school“ per Telefon oder Briefe. Erweitern Sie Ihre Kontakte und denken auch an Menschen, wie Nachbarn, entfernte Verwandte etc., die kein möglicherweise kein ausgeprägtes soziales Netz haben. Überlegen Sie, ob Sie schwächeren oder bedürftigen Personen Ihre Hilfe anbieten wollen und wie diese aussehen könnte (z.B. Einkaufen für kranke / ältere Nachbarn).
Achten Sie dabei jedoch darauf, den Medienkonsum in Bezug auf Covid-19 Informationen / Nachrichten zu begrenzen – es kursieren viele Falschinformationen und (teilweise gezielte) „Panikmache“, informieren Sie sich ein- bis zweimal am Tag bei verlässlichen Quellen über das Tagesgeschehen (z.B. öffentlich-rechtliche Sender, medizinische Fachinstitute).
- Selbstfürsorge:
Alle Aktivitäten, die unserem seelischen und körperlichen Wohlbefinden dienen, sind dazu geeignet, mit Belastungen und Stress besser umgehen zu können. Dies kann bedeuten, sich etwas Gutes zu tun oder aber bewusst etwas zu unterlassen oder darauf zu verzichten. Die Selbstfürsorge geht unmittelbar aus unseren Bedürfnissen hervor und ist unmittelbar mit dem Selbstwert verknüpft: nur wenn ich mir etwas Wert bin, lasse ich mir etwas Gutes zukommen und sorge für mich. Umgekehrt kann ein gutes Gefühl, was aus selbstfürsorglichem Verhalten resultiert, auch den Selbstwert steigern. Es stellt zudem eine gute Möglichkeit dar, depressiven Tendenzen und Stimmungsbildern entgegenzuwirken. Hilfreich sind auch Entspannungsverfahren und Hobbies. Sport im Freien ist gut für die Stimmung und stärkt das Immunsystem.
Da Bedürfnisse immer individuell sind, muss jede/r für sich herausfinden, was ihr/ihm guttut. Auf den weiteren Seiten finden Sie unter XXX hierzu zahlreiche Anregungen.
- Konflikte:
Resilienzorientiert empfiehlt es sich, schon vor der Eskalation von Konflikten aktiv zu werden. Jeder Mensch braucht auch Raum für sich – klären Sie miteinander wann und wie dies für alle Beteiligten möglich sein könnte. Sprechen Sie Ärger an, bevor die Situation eskaliert. Bilden Sie einen „Krisenstab“ oder „Familienkonferenzen“, am besten in regelmäßigem Rhythmus, auch wenn es keine Konflikte zu klären gibt. Sprechen Sie dann über Positives oder schmieden Sie Pläne (hilft auch bei Zukunftsängsten).
Seien Sie in dieser Ausnahmesituation geduldig und nachsichtig – mit sich selbst und anderen gegenüber!
- Hilfe:
Zögern Sie nicht, professionelle Unterstützung und Hilfe in Anspruch zu nehmen! Hierfür gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die auch ohne direkten persönlichen Kontakt weiterhin stattfinden können. Dies reicht von elektronischen Angeboten (z.B. https://ifightdepression.com/de/start) über telefonische Beratungs- und Seelsorgeangebote, bis hin zu psychotherapeutischer Unterstützung via Videosprechstunde). Im Notfall steht Ihnen auch unsere Ambulanzen zur Verfügung.
Weiterführende Informationen finden sie auch hier: https://www.uni-giessen.de/fbz/fb06/hilfe_corona
Fazit: Die Corona-Krise ist von vielen Problemen, Ängsten und Sorgen begleitet, die für alle Menschen eine große Herausforderung darstellen. Die gemeinsame erfolgreiche Bewältigung ist möglich, für jeden Einzelnen ist sie jedoch auch von der verfügbaren Resilienz abhängig. Schwierigkeiten können sich bei psychischen Vorerkrankungen oder aktuellen psychischen Störungen als Reaktion auf den psychischen Stress ergeben. Es sind Maßnahmen erforderlich, um sich über die Stärkung der Resilienz gegenüber diesem Stress zu „immunisieren“ oder bei Bedarf schnell weiterführende Hilfsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen.
Literatur
- Pan American Health Organization: PROTECTING MENTAL HEALTH DURING EPIDEMICS 2006.
- Shultz JM, Cooper JL, Baingana F, et al.: The Role of Fear-Related Behaviors in the 2013–2016 West Africa Ebola Virus Disease Outbreak. Curr Psychiatry Rep 2016; 18 (11): 104 CrossRef MEDLINE PubMed Central
- International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies: Mental Health and Psychosocial Support for Staff, Volunteers and Communities in an Outbreak of Novel Coronavirus 2020.